Mein "erstes Mal" ...

... war eine Vergewaltigung

 

Es ist Samstagabend. Ich telefoniere mit meiner Freundin, wir überlegen gemeinsam, welches Outfit wir heute Abend anziehen möchten. Wir sind gemeinsam zu einer Gartenparty bei einem Freund eingeladen. Die Vorfreude steigt, denn es durften schon lang keine Parties mehr stattfinden – Corona… Musik, nette Leute, Lagerfeuer, ein paar Drinks, tanzen. Genau das brauche ich heute Abend nach diesem anstrengendem Frühjahr mit verschobenen Abschlussprüfungen, ohne große Abschlussfeier, immer alles so gesittet und vernünftig. Heute Abend möchte ich einfach das Leben genießen, das Wetter ist herrlich warm. Es wird super! 

 

Sogar ein paar neue Leute sind dazu gekommen, total nett, offen, mit ähnlichen Interessen. Einen der Typen habe ich schonmal getroffen, auf einer anderen Party. Ich glaube, er gefällt mir. Wir chatten schon eine ganze Weile.  Mal schauen was sich daraus entwickelt. Die Stimmung ist ausgelassen, alle sind gut drauf, alle freuen sich, sich endlich mal wieder ohne Maske zu sehen, zu singen, zu feiern. Der Typ ist tatsächlich vielversprechend, wir haben lange geredet, gelacht, geflirtet, sogar ziemlich eng getanzt und die Chemie passt. Ich fühle mich wie im 7. Himmel, ich bin soooo verknallt. Überall Schmetterlinge, ich fliege!

 

Nachdem er die Party etwas früh verlassen hat, sitze ich nun ziemlich ausgepowert, leicht angetrunken und müde mit dem „harten Kern“ an guten Freunden vorm Lagerfeuer und lausche der Musik bis mir die Augen zu fallen.

 

Wir teilen uns die Zimmer im Haus auf. Wer schläft wo? Die Pärchen verziehen sich gemeinsam, die Singles fallen halt da um wo es sich anbietet. Mir ist es egal, ich nehme das erstbeste Sofa und lege mich hin. Neben mir aufs Sofa fällt ein Freund, Jonas [1] . Ich schlafe ein. Besser hätte der Abend nicht laufen können.

 

Meine Augen reißen auf, mein Herz rast, mir ist heiß und eiskalt zugleich. Ich fühle eine Hand die von meinem Hintern zu meinen Oberschenkeln wandert. Ich habe keine Ahnung was da los ist, aber ich fühle mich wie gelähmt, unter Schock. Ist das etwa Jonas? Da kann ja nicht sein, warum sollte der an mir rum fummeln? Shit, das ist ja unangenehm. Ich kenne Jonas schon so lang, er ist ein lieber Kerl. Wie soll ich ihm denn jetzt deutlich machen, dass er echt nix für mich ist ohne dass er sich unwohl fühlt? Wie bringe ich ihm bei, dass ich nicht auf ihn stehe? Er ist so schüchtern und zurückhaltend. Wenn ich ihm jetzt einen Korb verpasse, wird er sich davon nie erholen. Es würde mir auch niemand glauben, wenn ich das hier jemandem erzähle. Sowas kann Jonas doch gar nicht! Ohjeeee, er fasst meinen Bauch an, die Hand geht an meinen Busen – ich fasse es nicht. Er küsst meinen Nacken, ich bekomme Gänsehaut.

 

Allen Mut kratze ich dann zusammen und drehe mich um. „Was passiert denn hier???“ Bringe ich heraus. Er steckt mir die Zunge in den Hals, ziemlich massiv, fordernd, übermächtig. Die Hand in meinem Slip tut weh, sein Gewicht ist erdrückend. Ich bekomme keine Luft. Ich liege da wie erstarrt, mein Körper ist wie eine Hülle, anwesend bin ich nicht mehr wirklich. Ich möchte schreien, aber es geht nicht. Wie in einem dichtem Nebel kann ich Schemen wahrnehmen, ich höre nur sehr gedämpft, atmen kann ich schon lang nicht mehr richtig. 

 

Was passiert denn hier? Was ist das? Ich fühle nichts, keinen Schmerz, komisch, aber auch keine Freude, Angst ist da, Machtlosigkeit, ich kann es nicht beenden. Wenn ich versuche mich zu bewegen wird mein Körper niedergedrückt. Bitte lass es nur ein Alptraum sein!

 

Es ist vorbei, alles weg. Ich liege da, wach und doch im Nebel. Hoffe noch immer es war ein Traum... Vorsichtig fasse ich meinen Körper an. Kann ich ihn spüren? Ich fühle eine eiskalte Hand, meine Hand. Wie in Trance stehe ich auf, gehe zur Tür und verlasse das Haus. Es ist hell draußen, die Spuren der Party sind nicht zu leugnen. Ich steige über Flaschen und gehe Heim, 7km zu Fuß. Zuhause treffe ich auf meine Eltern, wünsche einen guten Morgen, rede kurz etwas belangloses mit ihnen und gehe unter die Dusche. Noch immer habe ich keine Ahnung was gerade passiert. Ich funktioniere wie ferngesteuert.

 

Stechender Schmerz macht sich breit – überall. Sieht man mir an, was ich erlebt habe? Merkt das jemand? Will ich überhaupt, dass es jemand wahrnimmt? Was erzähle ich denn jetzt? Ich möchte weinen, schreien, etwas zerschlagen, mich verstecken, in ein Loch verschwinden, meine Ruhe, Nähe und doch gleichzeitig Distanz zu allem. Dieser dumpfe Druck auf den Ohren ist noch da. Bleibt dieser Schmerz? Ich fühle mich, als sei ich von einer Walze langsam überrollt worden. Ich habe Muskelkater und zugleich fühlt sich mein Körper an wie Wackelpudding. Ich sitze da und starre vor mich hin, auf der Suche nach einem klaren Gedanken – es kommt keiner. In meinen Ohren dröhnt es.

 

Was passiert denn hier? 

 

Eine Nachricht auf meinem Handy: „Warum bist du schon weg?“ 

 

Was antworte ich denn darauf? Eine ziemlich simple Frage eigentlich, die Antwort ist nicht so simpel, glaube ich. Oder doch? 

 

Weitere Nachrichten kommen: „Jonas hat gerade erzählt, dass ihr eine schöne Nacht hattet… 😉 Was lief denn da? Erzählst du mir heute Abend, ja?!“ Waaaaas? Er erzählt das meiner besten Freundin?

 

„Hallo meine Schöne! Schade, dass du schon gegangen bist! Es war total schön mit dir heute Nacht… Wann wiederholen wir das? Ich habe mir die Fotos schon nochmal angeschaut…“  Mir dreht es den Magen um, ich muss mich übergeben. FOTOS?

 

„Hey! Es war super schön, dich gestern getroffen zu haben. Ich würde dich gern wiedersehen. Hast du Lust auf Pizza am Dienstagabend? Freue mich, wenn du dich meldest .“

 

Ich fange an zu weinen, die Tränen laufen still über mein Gesicht. 

 

Warum habe ich mich nicht gewehrt? Warum habe ich nicht „nein“ gesagt? Warum bin ich nicht einfach weg gegangen? Warum hat er das gemacht? Warum ich? Ich bin doch kein „Opfer“, ich bin so stark und selbstbewusst! Warum habe ich mich nicht gewehrt? Warum habe ich nicht geschrien, gekratzt, gebissen, gehauen? Warum Jonas? Wie konnte ich so blöd sein?

 

Was passiert denn hier?

 

Was erzähle ich meinen FreundInnen?  Werden sie mir glauben? Was sollen sie überhaupt glauben? Was, wenn sie fragen warum ich nichts dagegen gemacht habe? Was ist, wenn sie mir nicht glauben? Sie werden mir nicht glauben!!! 

 

Sicher werden sie mir nicht glauben! Jonas ist doch ein netter Kerl! Jonas würde nie…. Das…

 

Ich habe da sicherlich etwas falsch aufgenommen! Es muss ja an mir liegen, Jonas würde mich ja nicht…… Nein! Ich habe da einfach etwas falsch verstanden. Falsche Signale gesendet. Ich hatte ja auch ein Kleid an! Es liegt einfach an mir! Schließlich habe ich ja auch gar nichts gesagt. Woher soll er denn wissen, dass ich das nicht wollte? Ich habe mich ja nicht gewehrt. Und Jonas ist ja schon erfahrener mit Mädchen, der würde ja bestimmt Rücksicht nehmen, wenn er gemerkt hätte, dass… Vielleicht ist das einfach so, wenn man mit einem Jungen schläft? Fühlt sich das vielleicht einfach so an? Wie in einem anderen Film? Ich hatte es mir wie einen schönen Film vorgestellt – aber vielleicht muss man sich daran erst gewöhnen, bevor es schön wird?

 

Aber warum hat er mich runter gedrückt als ich aufstehen wollte? 

 

Was antworte ich denn nun auf die Nachrichten? Da steht ja, dass es schön war… 

 

Mir wird schlecht, ich spüre Schmerz im ganzen Körper, Muskelkater und Wackelpudding zugleich, heiß und kalt, Gänsehaut, Herzrasen. Das muss aufhören. Wieder laufen Tränen.

 

Was soll ich nur tun?

 

Meine Mutter klopft und fragt ob ich zum Mittagessen runter kommen möchte. 

 

„Nein Mama, ich habe keinen Hunger. Danke.“ 

 


[1] häufigster Jungenname im Jahr 2020, deshalb ausgewählt


Es handelt sich hier um ein Erlebnis einer jungen Frau, welches beispielhaft für viele Anfragen an unsere Beratungsstelle stehen könnte.

Die jungen Frauen sind zumeist noch immer nicht zu klaren Gedanken gekommen. Manchmal ist das Erlebnis bereits einige Jahre, Monate oder nur Wochen her. Sie haben mit niemandem oder mit wenigen Personen darüber gesprochen wenn sie sich an uns wenden. Es wird berichtet von Alpträumen, von Flashbacks, von Angst „vor fremden Menschen“ und „vor Nähe“. In der Regel befragen sie eine Suchmaschine um Antworten auf ihre Fragen im Internet zu finden. Immer häufiger werden sie bei der Suche auf die Nummer des Hilfetelefons aufmerksam und trauen sich dort, einen ersten, anonymen, unverbindlichen Kontakt aufzunehmen. Die Scham ist enorm groß. Der Vorwurf an sich selbst ebenso. Die Unsicherheit ist für die jungen Frauen fast nicht auszuhalten. Sie sind auf der Suche nach Antworten, trauen sich aber häufig kaum ihre Fragen zu stellen, zu schambehaftet ist die Situation. Zu groß die Entblößung. Sie wurden getäuscht – von ihrem Gegenüber. Sie vertrauen sich selbst nicht mehr. Ihr Alarmsystem hat nicht funktioniert. Warum habe ich die Gefahr nicht früher erkannt? 

 

 

Viele ihrer Fragen können wir mit unseren langjährigen Erfahrungswerten und fundiertem Fachwissen beantworten. Einige Fragen werden immer im Raum stehen bleiben. Es ist schwierig das auszuhalten, das Wissen nichts ungeschehen machen zu können. Aber wir können den jungen Frauen helfen, einen Weg zu finden.